Formentera-Fieber - Leseproben


6 TEXTAUSZÜGE „FORMENTERA FIEBER“

Teil 1

Hammer stand am Eincheckschalter, früh morgens, nach einer heftig durchzechten Nacht. Um vier war er vor einer Südstadt-Eckkneipe in sein Taxi zum Flughafen gefallen. Immerhin, er war sofort dran.

    Die Eincheckfrau starrte ihn nach einem kurzen Blick auf sein Ticket leicht irritiert und gleichermaßen entrüstet an. »Die Maschine ist doch längst in der Luft!«

    Hammer riss hektisch das Ticket zurück. Da stand tatsächlich Todesbotschaftsgleich: Abflugzeit 4 Uhr 20. Er hatte doch hundertprozentig 5 Uhr 20 im Kopf gehabt. Alzheim, Apokalypse. Aus einer inneren Verkrampfung heraus sandte er eine Kleinserie amerikanischer Fäkalworte zu Boden, ruderte mit dem rechten Arm, fasste sich jedoch schnell wieder, um tapfer, wenn auch etwas kraftlos seine Frage an die verwunderte Frau zu stellen: »Haben Sie eine Idee, was ich tun kann?«

    »Das ist die einzige Maschine von Hannover nach Ibiza bis übermorgen. Gehen Sie doch zum TUI-Schalter. Vielleicht können die Ihnen etwas umbuchen.«

    Gesagt, getan, wie am Boden zerstört rollerte er hinfort zum TUI-Schalter, nur wenige Meter weiter. Vor ihm ein Vierergrüppchen Reisender, bei denen anscheinend auch etwas schief gelaufen war. Um an der Bedeutungsschwere seiner Situation keinen Zweifel zu lassen, schickte er ihnen ein heftig entnervtes Gesicht, zumal es hier allem Wortlaut nach nicht mehr um wichtige Dinge ging. Kurz drauf verpissten sie sich tatsächlich.

    »Nehmen Sie sich ein Taxi nach Hamburg. Da geht noch eine Maschine um 7.30 Uhr. Und da ist auch noch jede Menge Platz drauf«,  antwortete der Typ nach Befragen seines Bildschirms gottgleich, gönnerisch.

    Ein kurzer, schmerzlicher Blick ins Portemonnaie. »Circa 170 Euro, das Taxi, sagen Sie? Gut. Können Sie das in Hamburg für mich avisieren?« »Kein Problem.«

    Hammer ging wieder hinaus in die kühle Nachtluft, Ende September, ca. 4 Grad, handelte mit dem türkischen Taxifahrer einen Festpreis von 150 Euro »kein Quittung« plus Raucherlaubnis aus. Geld unter die Leute bringen, dachte er bei sich und beschloss, die erste Woche aufs  Auto zu verzichten. Dass diese Reise nach allem was passiert war, eh' mehr als weit über seinen derzeitigen finanziellen Verhältnissen lag, war ein anderes Thema.

    Der Chauffeur machte gut Brett mit seinem Mercedes, und Hammer erschien immer noch rechtzeitig, wenn auch viel zu spät für die obligatorische Stunde vor Abflug am Hamburger TUI Schalter. Das Ticket wurde schnell und kostenlos umgeschrieben, und Hammer rollerte mit seinen beiden schweren Koffern erneut zum Einchecken, immerhin noch etwa zwanzig Leute in der Schlange.

    Etwas weiter vorn fiel ihm eine schlanke, zartgliedrige, langbeinige Frau auf. Insbesondere die Art, wie sich ihr reizender Hintern dem Rücken anschmiegte, und die Art, wie dieser schlanke Rücken oben von dunklem, dicklockigen Haar bedeckt wurde, hatte sein strapaziertes Hirn sofort in eine kleine Verzückung versetzt.

    Hammer hatte im Laufe der Jahrzehnte eine gewisse intuitive Fähigkeit erworben, bei Frauen, die er zuallererst von hinten sah, aus der Form ihres Gesäßes auf ihr Gesicht zu schließen. Das aber nicht nur in simplen Kriterien wie hübsch oder hässlich. Seine Erkenntnisfähigkeit hatte sich in weitaus filigraneren Facetten entwickelt. Ja, er konnte zumindest erahnen, wie spannend oder langweilig, aufgeweckt oder dümmlich diejenige von vorne erscheinen würde. Das funktionierte natürlich auch anders herum, hatte sich mit ziemlicher Sicherheit sogar eigentlich aus dieser Perspektive her entwickelt. Also als einfachstes Beispiel: vergrämtes Gesicht, vergrämter Arsch. Und Hammer täuschte sich seltenst.

    Als sie sich kurz bückte und dann einen Blick hinter sich warf, sah er ihr Gesicht. Hohe Stirn, leicht gebogene Nase, fast bernsteinfarbene Augen, ein Blick und eine Art von Körperhaltung, die ihn faszinierten und die gewisse aufgestaute Energien vermuten ließen.

    Er war sich nicht sicher, ob auch sie Formentera zum Ziel hatte. Sie wirkte einen Tick zu straight, zu zielstrebig in ihrer Motorik, dabei zu natürlich und zu souverän für Ibiza. Jeans ohne Risse und Löcher, beige Windjacke, keine affigen Applikationen, wie Nasenringe, Fransen, hochhackige Westernboots, freier Bauchnabel, Schmink-Köfferchen... Nichts dergleichen, nur eine kleine, dunkelbraune Ledertasche über die Schulter gehängt. Er beobachtete sie genau, lächelte, fühlte das Bier und die Reste des weißen Pulvers in den Adern und hoffte insgeheim, dass sie sich für einen kleinen Augenkontakt erneut umdrehen würde.

    Ihr kurzer Blick, die Art, wie sie sich bewegte, einfach eine eindrucksvolle Erscheinung. Managerin, Model, was immer, Mitte 30, eine attraktive Frau, die ihre Sache durchzog, hier oder dort - völlig unabhängig von der Lokalität. Außerdem sind die Zeiten längst vorbei, dachte Hammer, in denen man vom Augenschein her noch sicher gehen konnte, welcher Passagier auf welche Insel wollte.

    »Ich möchte neben der Dame mit den langen, dunklen Locken sitzen.« sagte er zu der Eincheckfrau, die fragte, ob Raucher oder Nichtraucher.

    »Wird gemacht,« lachte sie.

    Er spürte ein kleines Gottgefühl. Das Schicksal gelenkt, obwohl sein Verlangen doch gar nicht wirklich ernst gemeint war. Es war einfach frech aus ihm herausgesprudelt. Hatte es einen tieferen Sinn, dass er statt von Hannover nun von Hamburg flog? Was ja auch viel schicker ist, dachte Hammer beiläufig.

    Oh Gottogott, was würde werden? Dass er sie bloß nicht in seinem überdrehten Zustand mit völlig paranoidem Schwachsinn zusülzen würde? Auf dass sie sich angewidert abwenden oder gar per Notknopf die Stewardess zuhilfe rufen würde.

    »Dieser Mann belästigt mich in impertinenter Weise.«

    Mindestens würde er alles abstreiten. »Tut mir sehr leid. Ist mir völlig unverständlich, was die Dame meint. Muss   etwas falsch verstanden haben. Wirklich!« Und überhaupt, was sollte das alles? Er war doch mit Luisa verabredet auf Formentera, dringend und in Liebesdingen.

    Sitz Nr. 29 D, ein Raucherplatz am Gang. Auf E und F saß ein älteres Ehepaar, links vom Gang drei Zollbeamte mit Oberlippenbärten - oder vielleicht auch Speditionskaufleute?

    Was geht hier ab? Die kleine Eincheck-Tussi, die mit ihrer dümmlich forschen Visage sofort auf Ibiza als lokale Reiseleiterin hätte anfangen können, hatte Gott gespielt und ihn mal eben verarscht. Keine dunklen Locken nowhere, nada. Er kramte seine Bordkarte erneut aus der Tasche. Fuckin' 29D. Da beißt die Maus kein' Faden ab.

    »Guten Morgen.« sagte Hammer nervös und quetschte sich auf den Gangsitz. Beide etwa Anfang bis Mitte 60, sie mit gekonnt angeblondetem Platinhaar, Silberschmuck, ganz elegant. Der Mann erinnerte ihn mit seinen weißen Locken spontan an den früheren Bundespräsidenten Scheel.

    Vielleicht würde er sie beim Gepäck wieder sehen. »Wenn Sie zufällig nach Formentera wollen, können wir uns vielleicht das Taxi zum Hafen teilen.« Nicht wirklich gut. Sie könnte ihn für einen Knauser halten, der seine Transferkosten halbieren möchte. »Sollten Sie zufällig auch nach Formentera wollen, würde ich mich freuen, mit Ihnen zusammen das Taxi zu nehmen.« Schon besser. Halt! So müsste es kommen: »Entschuldigen Sie, ich möchte mal einfach drauf wetten, dass Sie auch nach Formentera wollen. Vielleicht mögen Sie ja das Taxi mit mir nehmen.« Sehr gut, Hammer! Womöglich noch ökologische Aspekte nachschieben, Energie sparen, 1 PKW statt 2, Schadstoffausstoß? Nein, so einen Bullshit schon mal gar nicht!

    Das Flugzeug startete. Man könnte bei einem Ja sofort weltgewandt nachschieben: »Sehen Sie, Sie machen einfach nicht den Eindruck, als wollten Sie auf Ibiza bleiben«. Sie? Oder gar: »Hätten Sie nicht Lust, ein wenig mit mir zu ficken?« Quatsch, Hammer! Fürs erste jedenfalls Sie. Schöne Gespräche würden sich entwickeln und man könnte alsbald als Älterer das Du anbieten, ha. Oh Hamburg, oh göttliche Fügung. Aber es passte ja gar nicht. Luisa wartete ja schon.

    Luisa hatte er, Hammer, Insel-Süchtiger, Pfingsten, kurz nachdem sich Anna von ihm getrennt hatte, auf Stromboli kennen gelernt, d.h. eigentlich erst auf dem Neapel-Nacht-Schiff, während der Abfahrt. Die typische Norditalienerin, rotblond, braunäugig, ausgeprägte Nase und wundervolle Lachfalten. Sie hatte ihn sofort fixiert, während sie beide rauchend etwas entfernt voneinander am Geländer standen und auf die Lichter der Häuser und den kleinen Hafen schauten. Jedes Mal wenn er sich seitwärts zu ihr drehte, drehte sie sich seitwärts zu ihm, jedes Mal wenn er sich wieder gegen das Geländer drehte, tat sie desselben, ebenso bei seiner Drehung in Richtung Bar. Ein kleines, verrücktes Spiel.

    »What a pity!« hatte er gesagt und auf die Insel gedeutet. Sie waren sofort im englischen Gespräch, sie mit diesem schönen Mailänder Akzent. Dann, als sie etwa 2 km auf See waren, hatte der Vulkan plötzlich eine heftige Eruption freigegeben, ein magisches Bild in der mondlosen Nacht. Der kegelige Umriss der Insel - vorher kaum mehr auszumachen, nur die paar Lichter der Häuser und Hafenlampen. Und plötzlich dieser Feuerregen, der alles erleuchtete und konturierte. Ekstatischer Applaus an Bord. Und dann walkte sich die glühende Asche wie eine Raupe die Sciara Del Fuoco hinab Richtung Meer. Erneuter Applaus von all den Leuten an der Reling. »Oh, magic,« hatte Hammer gepriesen.

    »Somewhere there is my husband,« hatte sie, als Hammer etwas näher an sie herangerückt war, gesagt und in Richtung Bar gedeutet. Also doch, verdammt, ein Ehemann. Sie hatten sich nicht mal einander vorgestellt. Diese Frage, »What's your name?« zu stellen, war ihm zu intim, zu unpassend erschienen. Obwohl, er war sich ziemlich sicher gewesen, dass er unter anderen Umständen nach kurzer Zeit mit ihr in der Kabine verschwunden wäre.

    Dann hatte sie erzählt. Keramik machte sie, und ihr Mann war Chef einer großen Edelstahlkesselfabrikation in Cremona, Norditalien, wo das Nougat herkommt. Cremona? Keramik? Beschäftigungstherapie reicher Industriellen-Gattinnen.

    »But I don't sell much.« Klar. Keramik mit Wasserfarben, selber brennen. Hammer hatte kurz von seinem Gitarrengeschäft erzählt. Kunstgewerbe hin, Geschäfte her, in ihr brannte das Feuer - genauso wie in Hammer. Da war sie mit einen Ciao hinfort gegangen, hinfort gen Gatten an die Bar.

    Morgens im Schiffsrumpf hatte er sie wieder getroffen, beisammen. Der Mann sah ganz nett aus, so Typ Wolfram Siebeck, grauhaarig, dynamischer Sympath, allerdings angegriffen, schlechte Nacht, womöglich. Jedenfalls gar keine Gelegenheit, Adressen auszutauschen. Sie hatte ihm gefallen, vielleicht ein bisschen zu kräftig in den Hüften, aber ein definitiv magischer Hintern und eben diese Art der Körpersprache, ihre Intensität des Agierens, diese Zugewandtheit und ein gewisser, lasziver Ausdruck in ihren Zügen, das Zusammenspiel ihres voll-lippigen Mundes mit den Augen, wenn sie lachte.

    Hammer - nicht faul - hatte frech seinen italienischen Distributor auf die Gelben Seiten angesetzt, die Mitarbeiterin Mara hatte tatsächlich in der Kesselfabrikation angerufen und die Telefonnummer der Ehefrau erfragt, in Sachen Keramik-Dinge. Seither hatten sie fast täglich telefoniert.

    »Where can we meet again?« Sein Vorschlag Formentera war der Treffer gewesen, insbesondere weil ein Freund ihres Gatten in der Nähe von Formenteras Schweizer Viertel ein nettes kleines Anwesen besaß.

    Hammer überlegte, ob er nun doch dabei war, sich eine neue, bisher nicht gekannte und keinesfalls gewollte Einstellung zu den Dingen zueigen zu machen. Wie konnte er nach aller Entflammung gerade jetzt im Endlauf zur Erfüllung Ausschau halten nach anderen Frauen? War ihm Luisa nicht wirklich Ernst, oder war ihm gar nichts mehr wirklich Ernst in Liebesdingen?

    Klar, gerade weil es mit Anna so schnell vorbei gewesen war, hatte er sich in letzter Zeit öfters grundsätzliche Gedanken gemacht über Beziehungen, den Ablauf von Partnerschaften. Nach sieben Jahren ist fast jede Beziehung kaputt, schon nach einem Jahr kann das erotische Verlangen extrem abnehmen, oder schon nach zwei Monaten?

    Je nach dem. Oder war es nur die Konstellation, Vorbehalt von Anfang an? Luisa, das Objekt seiner Liebe, verheiratet, eh nichts wirklich zu machen. Kann es Liebe geben, wenn schon vorher reale Tatsachen dagegen stehen? Liebe, Objekt und Vorbehalte? Herr Hammer, da stimmt doch etwas nicht! Aber, könnte sich nicht doch alles wenden? Er würde mit ihr zusammen sein, sie wirklich begehren wie nichts anderes auf der Welt, sie entführen in sein Heim und in sein Reich, welches ihm in zehn Tagen wieder gehören würde, ihm allein..

    Was musste Hammer auch nach dicken Locken peilen, anstatt sich auf die zu konzentrieren, die jetzt bereit war für ihn? War Luisa nicht von viel subtilerer Anmutung als die Dicklockige? Obwohl... Aber genau dieses Abwägen gab ihm wieder zu denken, machte ihn an sich selbst und am zu erwartenden Glück zweifeln.

    Wie weit war er überhaupt noch in der Lage, Glück, Liebe, die Erfüllung zu empfinden? Er, der mittlerweile aus der Betrachtung eines eigentlich wohlgerundeten Knackarsches auf ein dümmliches Gesicht schließen konnte. War nicht eh alles gelogen? Hatte er urplötzlich in ein System eingecheckt, welches er immer verachtet hatte? Den Glauben verloren? Dennoch, der Gedanke, sich nun zu erschießen oder auf andere Weise seinem Leben ein Ende zu machen, lag ihm ferner denn je.

    Da war nun eben nicht nur Luisa als Objekt der Begierde, der Faszination, der Liebe... Es gab nun derer zwo. War das nicht noch besser? Oder war er doch nur zu einem unmoralischen Opportunisten geworden, der die Liebe, das, was er einst als das höchste Gefühl geschätzt hatte, nun halbherzig zu konsumieren trachtete? War er der einzige dieser Art auf der Welt, der so seine Gedanken zurecht bastelte, oder dachten in Wahrheit alle so? Aber was sollte das rechtfertigten? Was sollte das Geseier?

    Hammer beschloss, auch diese Dinge auf sich zukommen zu lassen. Schlimmstenfalls zu reagieren, bestenfalls alles selbst in die Hand zu nehmen. Immerhin, er hatte niemandem irgendetwas versprochen. Luisa war ohne Ansprüche, die Dicklockige war allenfalls eine Fiktion. »Ficken« dachte Hammer und schämte sich gleich.

    Frühstück. «Na, da habe ich mich wohl vertan.« sagte die kleine Mist-Stewardess vom Eincheckschalter im Vorüberschieben des augenscheinlich schweren Bordimbiss-Wagens.

    Wieso war die jetzt hier? Hatte man sie abgeschoben auf diesen Flieger? Als Imbiss-Schieberin? War nun alles soweit rationalisiert, dass die TUI-Bediensteten sowohl die Passagiere eincheckten als auch an Bord als Snack-Schieber zur Verfügung stehen mussten. Ein verkommener Berufsstand? Das andere Wort für Frau mit V bildete sich in Hammers Sprachzentrum. Oder schrieb sich das auch mit F? Irgendwann war sie wieder bei Reihe 27 angelangt.

    »Tut mir wirklich leid.« sagte sie wissend und reichte ihm das Tablett.

    »Was meinen Sie?«

    »Ach nichts...««

    Er riss das durchsichtige Plastikbordmesser aus der durchsichtigen Zellophanumhüllung, drückte es seitlich in die Zarge des Aufbackbrötchens und erzielte zwei halbwegs gleiche Hälften - halb säbelnd, halb reißend. Dann hobelte er mühsam eine flache Scheibe kalte Butter aus der kleinen Tiefziehpackung, in ständiger Angst, das Messer könnte zerbrechen oder die Butter könnte in hohem Bogen eine Sitzreihe weiter fliegen, oder gar bis auf die Dicklockige, ha...

    Letztlich schweißgebadet positionierte er sie, die Butter, mittig auf die Brötchenhälfte, bedeckte sie mit der Schlackwurst, roch vorsichtig daran und biss widerwillig zu. Auf die andere Hälfte ein weiteres Drittel Butter, der Kochschinken bot sich an als Auflage. Er  packte das Salatblatt darunter und zerrte mit den Zähnen an dem pappigen Etwas. Die Käsescheibe gedachte er entnervt dem Vollkornbrot zu, dessen Packung recht mühsam aufzureißen war. Darunter noch die letzte Ecke Butter...

    Bei dem Versuch, diese flächiger zu verteilen, brach die Scheibe. Die Idee, die Rundpackung Aprikosenmarmelade zu öffnen und sie auf die zweite Scheibe des Vollkornbrots zu verteilen, verwarf er. »Es muss einen Sinn gehabt haben, mit Hamburg,« dachte er wieder. Dann kam der Kaffee.

    Zu früh, ein Bier dazu zu ordern. Hammer nahm einen Tomatensaft.

    »Salz und Pfeffer ist schon auf Ihrem Tablett zusammen mit dem Kaffeeweißer.« schleimte die kleine Stewardess.

    »Ach, geben Sie mir doch bitte noch ein Bier.« sagte er, einer plötzlichen Eingebung folgend.

    Er drückte sich wieder hoch im Sitz, Dicklockiges zu erspähen. Nichts. Sie musste weiter vorn sitzen, arschklar. Nachdem er das Bier ausgetrunken hatte, entschloss er sich zu einem Toilettengang Richtung Cockpit. Scheiß Tablett. Er bat den Mann neben sich, es zu halten, während er sich aus dem Sitz quälte.

    »Gern,« sprach dieser freundlich.

    Hammer pirschte sich langsam vor, begleitet vom  Turbinenbrummeln, ein Gefühl, wie wenn man sanft bergauf geht. Er ließ den Blick über die Sitzkanten peilen. Schwer, von hinten überhaupt jemand zu erspähen, Seitenblicke, aus dieser Gehrichtung ganz schlecht. Nichts. Er erreichte die Toilette.

    Ein kleines Mädchen stand zappelnd vor ihm an. Er drehte sich um und ließ seinen Blick langsam über die Reihen gleiten. Sie war nicht auszumachen, was war das überhaupt alles? Wie konnte es dazu kommen? Wozu überhaupt? Ist nicht überhaupt alles Zufall im Leben? Nein, Zufall sicher nicht. Oder rein logische Steuerung, kausale Abfolgen, die sich nicht beeinflussen lassen? Sinn? Quatsch! schwurbelte es durch Hammers Hirn. Sinn hin, Sinn her, Sinn fuckin`, no sense content. Whatever, fuckin' English, der einzige Sinn: Hamburg! Vielleicht schlief sie schon, war etwas heruntergesackt, heraus aus dem Blickwinkel.

    Während Hammer pinkelte, überlegte er, ob er den letzten Rest des weißen Pulvers nachlegen sollte. Dieses nette, kleine Geschenk von Robert, einem seiner besten Freunde, mit dem er die Nacht in der Südstadtkneipe verbracht hatte. Nimm das jetzt mit, sonst muss ich das morgen wegrüsseln. Ich weiß, dass ich das morgen wegrüsseln werde. Und ich weiß genau, das ist nicht gut für mich.

    Gute Gelegenheit, hier auf der Toilette. Es könnte ihn auch nach vorne bringen, falls tatsächlich ein Blickkontakt oder sonst etwas auf dem Rückweg zustande käme. Der Blick in den Spiegel belehrte ihn eines Besseren. Er sah fertig aus, ganz schön fertig. Besser, wenn ihn in diesem Zustand überhaupt niemand zu Gesicht bekäme, besser gar kein Kontakt, derzeit!

    Sie saß tatsächlich schlafend am Fenster in Reihe zwölf, das ungeöffnete Imbiss-Tablett vor sich auf dem Klapptischchen. Er hielt kurz inne, nahm ihre Erscheinung erneut in sich auf, ging zurück in Reihe siebenundzwanzig und zündete sich eine Zigarette an. Eigentlich wollte er ab heute morgen nicht mehr rauchen. Aber war es schon heute morgen? Außerdem ging ihm schon wieder die große Scheiße durch den Kopf: Er, Hammer, konkurs, gekündigt, entlassen. Aber die Weichen waren gestellt.



2)   Das Schnellboot hatte abgelegt, und Hammer traute seinen Augen nicht. Ein Stück weiter lag die Joven Dolores an der Mole, dieses wunderbare Holzboot, welches er seit mindestens zwei Jahren als nicht mehr existent gewähnt hatte. Auch die beiden Mitreisenden blickten ungläubig.

       »Das gibt’s doch nicht! Die Joven!«, staunten sie, während sie sich am Arm zwickten. »Dat jibbet nit!«, murmelte nun auch Hammer atemlos.

       »Moment«, sagte er, stellte die Koffer ab und stürzte los, die Angelegenheit näher in Augenschein zu nehmen. Joven Dolores stand wie immer in schwarzer Schrift am Bug. Allerdings war das ganze Schiff frisch gestrichen, altweiß, in guter Qualität. Den Bug zierten nicht gekannte Takelagen aus Aluminiumrohr mit bunten Glühlampen, und aus dem Schiffsinneren tönte Musik. Und was war das? Drei Meter entfernt von der Bugspitze prangte fett ein rot-grünes Logo auf weißem Grund: Linea Italiana. Proxima Salida 11.00 stand auf einem Schild am Laufbrett. Ein Typ von der Besatzung stand oben und lächelte. »Secundo giorno della Joven Dolores!« Ein Italiener. Hammer war erstaunt, zeigte aber beide Daumen emporgereckt.

       Sie gingen zum nagelneuen Linea Italiana Schalter und kauften Tickets. Die Frau hinter dem Tresen erklärte, dass die Joven Dolores von ihren italienischen Landsleuten komplett renoviert worden sei und fortan wieder dem Fährverkehr zur Verfügung stehe.

       »Lieber italienisch, als gar nicht!«, sprach der Reisegefährte.

       »Jawohl, Italia!«, sprach Hammer beseelt. »Die Italiener haben’s kapiert, capito!«

       Immerhin hatte dieses alte Holzschiff schon zweimal für diverse Monate in Denia zur Reparatur gelegen. Und böse Zungen hatten lange behauptet, die Joven, die junge Dolores würde niemals wiederkommen, Trockendock, Schrott, das fatale Ende einer unwiederbringlichen Epoche. Er setzte sich mit dem Ehepaar an einen Tisch vor der Anleger-Bar. Sie bestellten café con leche plus einen Hierbas, nur für Hammer. Hammer griff nach der letzten Gitanes Filtre. Doch nicht die richtige Zeit, mit dem Rauchen aufzuhören...

3)   »Was soll das mit den Ufos?«, fragte Moppel beherzt und wischte seine langen, strähnigen Haare nach hinten.

       »Das letzte Mal hast Du mit hundertprozentiger Sicherheit behauptet, es gäbe welche. Aber ehe Du mir das erklären konntest, bist Du abgehauen, weil Du den Typen mit dem Afghanen-Shit erspäht hattest und unbedingt dieses Zeug haben wolltest.«

       Moppel bestellte ein Bier, legte seine Brille ab und holte tief Luft. Hammer trat Alfred mit dem linken Fuß ans Bein und Marianne mit dem rechten.

       »Du ignorantes Schwein! Es gibt Ufos! Ich hab das ja auch nicht geglaubt, bis zu dem Zeitpunkt, wo ich selber eins gesehen hab. Ich war mit dem Moped unterwegs von San Francisco auf’s Cap, ich gucke da eher zufällig schräg links hoch, da ist da ein gleißendes Licht, total weit weg, aber total hell. Das steht da und -« Moppels rechte Hand rauschte mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben – zusch, sackte blitzschnell nach unten, »steht da, und, zusch!« – die Hand ging straight nach oben – »ist wieder oben, dann« – Moppels Hand vollführte eine mehrfache Zickzackbewegung nach außen, »zusch, wuck, zusch, wuck, szschschsch.... – war es weg. Ich sage dir, Zickzack-Bewegungen, dafür gibt es keine Erklärung. Das kann keiner fliegen, und schon gar nicht in der Geschwindigkeit. Und total weit weg.«

       »Ich weiß«, sprach Hammer amüsiert, »Ihr morgens auf die Wiese, Farben voll da, und dann diese Ufos. Ihr wart doch nur völlig zugedröhnt damals.« Das war Hammers Methode, Moppel vor Publikum aus der Reserve zu locken, und sie funktionierte:

       »Das war nicht das einzige Ufo, was ich gesehen habe.« Nun strich Moppel das lange Haupthaar mit den aufgespreizten Fingern beider Hände Richtung Nacken. »Wir sind mal vonner Party nachts um halb vier durch den Wald nach Hause gegangen, ne Abkürzung von der Cap-Straße auf den Camino Richtung Müllkippe.«

       »Du und Andrea?«

       »Quatsch, Du Arsch. Das war Elke, meine damalige Freundin.  Da ging also rechts ein Weg ab, zwischen den Pinien, und

auf der Lichtung, das war wie bei ET, da war diese riesige, weiß glänzende Scheibe, dieses gleißende Licht, und da kamen Wesen raus, wie auf einer Rampe. Alles dampfte. Ein Raumschiff, völlig real!«

       Hammer stieß wieder beide Füße zu Marianne und Alfred, die andächtig lauschten. »Und? Bist Du denn dann nicht...« – Hammer suchte die rechten Worte – »sagen wir mal, zur Guardia gegangen? Könnte man doch irgendwo, sagen wir mal, polizeilich melden, so einen Vorfall. Seiner Pflicht als ordentlicher Resident nachkommen.«

       Moppel schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Nein, das Verrückteste ist ja, dass es zweieinhalb Jahre gedauert hat, bis uns die Sache überhaupt wieder eingefallen ist. Verstehst Du, bis wir überhaupt das erste Wort über diese Sache gesprochen haben, zweieinhalb Jahre, bis wir darüber sprechen konnten. Weißt Du, die haben unser Bewusstsein ausgeschaltet. Die wollen ja keine Zeugen.«...

4)   Er leckte sie tatsächlich noch, und sie ihn erst recht, aber erst am späteren Abend, nachdem sie einen phantastischen Tomatensalat mit Schafskäse, schwarzen Oliven, Schalotten und frischem Basilikum sowie einen dampfenden Topf unschlagbarer Tagliatelle mit Pesto auf den Tisch gebracht hatte. Dann war sie eine Weile im Bad gewesen und überraschte Hammer mit einem Netz-Bodystocking, welches neben den üblichen Öffnungen noch eine zwischen den Beinen vorwies, wie Hammer nach kurzer Prüfung feststellte.

       »Is that all mine?« fragte er auf ihren herausfordernden Blick.

       »Tutto, all!«

       Es war diese Spannung zwischen Zärtlichkeit und harter Erotik, die ihn faszinierte, dieser urplötzliche Umbruch ins Animalische. Hammers Fingerspitzen zogen über die großen Maschen, diese betörende Einheit gesponnenen Textils und, zarter, nackter Haut. Es versetzte ihn in irre Verzückung, die fest unter dem Netz liegenden Knospen zu rühren, zu drücken, zu drehen, während sie ihn zielsicher zum Ledersessel zog, dabei die Hand auf seine Hosenwölbung pressend. Dann riss sie ihm die Hose auf und herunter, drehte sich um und hockte sich  aufs weiche Nappaleder...

5)   »Mach, was Du willst!«, erwiderte er die Attacke. »Dich schlage ich nicht. Aber das wird seine Konsequenzen haben.«

       »Du bist ein blöde’ Wichser!«, zeterte der Asiate weiter, E. deutete mit einer bedauernden Geste an, wie wenig er von seinem Widersacher hielt, drehte sich um und ging.

       Plötzlich von innen das Geräusch eines umstürzenden Barhockers, ein weiterer Unruheherd. Ein kleiner, hagerer Geselle zerrte einen großen, eher dicken und verdutzt wirkenden Typen aus der Bar auf die Terrasse, baute sich vor ihm auf und schrie: »Du wirst meine Freundin nicht noch ein einziges Mal begrabschen, Du Arschgesicht!«

       Dann holte er aus und schlug ihm eine volle Rechte aufs Kinn. Der Dicke schaute verwundert, unbewegt, und nur sein Kopf zuckte beim Einschlag der Faust fast unmerklich zurück. Der kleine Wutbold holte wieder aus, schlug erneut zu, des Dicken Kopf zuckte auf dieselbe Weise nach hinten, als würde das dem Schlag alle Kraft nehmen. Dann wurde der Kleine von mehreren Leuten festgehalten und rangelte ruckend und fluchend, um wieder der Festnahme einiger starker Arme zu entkommen.

       Nun beugte sich der Dicke, der ein wenig an der Lippe blutete, vor und sagte ruhig: »Du, Rolf, wenn Du jetzt noch mal zuschlägst, dann kriegst Du eine zurück. Aber das würde ich Dir nicht raten.«

       Die Frau, bei der es sich anscheinend um die Freundin des Cholerischen handelte, kam aus der Bar gestürzt, beschimpfte laut und schrill ihren Gefährten und zog ihn fort durch die Gasse, die in den so genannten Kontakthof führt.

      Der unglaublich pralle Gaucho-Peter rief noch etwas wie »Sowat jibbet hier nit! Du hast hier Hausverbot ab heute!«, und das Geschehen beruhigte sich wieder. Kurz drauf wurde Hammer von einem der Anwesenden berichtet, dass der große Dicke vor einigen Jahren noch im Schwergewicht geboxt habe und von Rechts wegen auch gar nicht zuschlagen dürfe, weil: Faust gleich Waffe. »Wenn der dem Rolf eine gedonnert hätte, der wär garantiert bis rein in den Kontakthof geflogen, die Zähne alle hinterher! Und dann zwei Wochen Hospital in San Francisco.«

       War es der Vollmond, war es das bevorstehende Saisonende, oder waren es einfach die geheimen Vibrationen dieser Insel, die das Aggressionspotential der Leute zum Ausbruch trieben?...



6)
  Die beiden rappelten sich auf und schauten sich um. Alles voller Blut, es roch nach Blut. Wie riecht menschliches Blut? Das musste der Geruch wohl sein! Apokalypse. Jetzt.

       José, der Wirt, war der erste, der wieder im Geschehen stand. Dieser Mann hatte gerade seine wahrscheinlich besten Gäste verloren, war Hammers erster, böser Gedanke. Aber es gab keinen Schaden mehr zu begrenzen. »Muertos, todos muertos!«, schrie José. »Que pasa, porché?« Tränen schossen ihm aus den Augen. Vom versammelten Tisch war augenscheinlich niemand mehr am Leben. Weiter links hatte eine junge Frau begonnen, völlig hysterisch zu schreien.

       Moppel packte sie an den Schultern und brüllte sie an. »Es ist vorbei, es ist vorbei!«

       Eine Minute später hörte man im allgemeinen Lärm das Manhattan-Gejaul der Ambulancia, vermischt mit dem Heulen der Polizeisirenen. Die Guardias sprangen aus ihren Jeeps. Seis muertos, sechs Tote hörte man immer wieder. Ein Guardist rannte hinüber zum Hostal, hob K.’ Schnellfeuergewehr auf und brachte es zu einem der Autos.

       Die Sanitäter hockten kurz über den Toten und deuteten mit bedauernden Gesten an, dass hier nichts mehr zu machen sei. Blaulicht, Gelblicht, ein unglaubliches Geflacker und ein unglaublicher Radau.

       »Hier bleiben!«, rief einer der Guardias Hammer und Moppel zu.

       »Si, si, wir bleiben, quedamos«, antwortete Moppel.

       Hammer zitterte plötzlich am ganzen Körper und ließ sich in einen der Stühle fallen. Einer der Guardias sprach einigermaßen Deutsch und setzte sich dazu, einen Protokollblock in den Händen. »Wie ist das passiert?«, fragte er. Hammer überließ es Moppel, dem Residenten, den Tatvorgang zu schildern: Streit, aufgesprungen, oben die Balkontür, die Schüsse...